Kurzgeschichten

Meine Lunge brannte, während ich immer tiefer in den dunklen Wald lief.
er war hinter mir. Ich konnte ihn spüren. Ich spürte die eisige Kälte, die von ihm ausging, obwohl Dezember war und ich nicht mehr als ein Nachthemd trug. 
Er war heute Nacht gekommen, betrunken, gemeinsam mit seinen so falschen Freunden. 
Sobald ich das Türschloss unserer kleinen, leeren Wohnung gehört hatte, war ich losgerannt, durch die Hintertür, von der er nichts wusste.
Und seit dem rannte ich. Meine Beine waren inzwischen Taub und meine Haare hingen nass von Schweiß an meinen Schultern. 
Ich hörte ihn rufen. Er rief meinen Namen. Immer wieder. 

Plötzlich wurde es hell um mich herum. Ich war auf einer Lichtung, anscheinend war die Sonne inzwischen aufgegangen. Um mich herum lagen kaputte Glasflaschen und ich meinte, die Lederjacke meines Bruders zu erkennen. 
Er rief mich wieder. Diesmal war er näher. 

Er kam immer näher, bis er meinen Namen schließlich direkt hinter mir flüsterte. 
"Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, Schwesterherz"

Ich wollte wieder losrennen, doch meine Beine waren wie gelähmt vor Angst. Angst, vor dem, was geschehen würde und vor dem, was bereits geschehen war. Starke Hände packten meine Schultern und drehten mich herum. Ich blickte in seine kalten, grauen, und von Drogen zugedröhnten Augen, die den meinen so ähnlich waren. 
Als er mir ins Gesicht schnaufte, stieg ein starker Geruch von Alkohol in meine Nase. 

"Du warst zu lang wach, Schwesterchen. Du solltest schlafen.", flüsterte er und begann zu grinsen.

Dann hob er mich wie eine Puppe und legte mich unsanft auf den feuchten Boden. Ich spürte hunderte kleine Glasscheiben, die in meinen Rücken schnitten wie Messer. 
Mit meiner rechten Hand ertastete ich eine große, scharfe Scherbe. 
Als er kurz abgelenkt war, um in seinem betrunkenen Zustand seinen Gürtel zu öffnen, ergriff ich die Scherbe und schnitt mit damit in den Arm. 

Das letzte, das ich wahrnahm, war der überraschte Ausdruck in seinem Gesicht, als er erkannte, was ich getan hatte. Und das warme Blut, das sich auf meinem Körper ausbreitete und mein weißes Nachthemd rot färbte. 

Als ich die Stimmen meiner Eltern hörte, die mich zu sich riefen,  wusste ich, dass ich zuhause war, und dass ich nie wieder diese Schmerzen spüren würde. 

Ich war das erste und letzte mal in meinem Leben glücklich

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Monster inside 

Seine Beine gaben ihm kurz nach, als er aus dem Flugzeug stieg. Klar, nach drei Monaten in Argentinien freute er sich, dass er wieder nachhause kam, aber er hatte Angst.
Angst davor, wie sie reagieren würden, wenn er es ihnen erzählte.
Falls er es ihnen erzähle. So wie er sich kannte, machte er kurz davor wieder einen Rückzieher, wie er es immer tat.
Er hatte es schon vielen erzählen wollen. Seinem Besten Freund, dem Bi-Sexuellen Mädchen aus dem Austausch, dem Jungen aus der argentinischen Schule, der in ihn verliebt war... doch immer, wenn er es aussprechen wollte, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Es war, als würden diese drei Worte ihn von innen heraus zerstören und deswegen einfach nicht rauskommen wollen.

Er wollte es sagen. Von ganzem Herzen wollte er es in die Welt hinausschreien, doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Vielleicht war es die Tatsache, dass er streng christlich erzogen worden war, vielleicht hatte er sich selbst noch nicht hundert prozentig akzeptiert, vielleicht war es aber auch nur die riesengroße Angst vor den Reaktionen.

Er hatte im Internet Videos von Leuten gesehen, die es ihren Eltern gesagt hatten und dafür von ihnen verstoßen wurden. 
Und das wollte er nicht. 
Er liebte seine Eltern und er wollte, dass sie ihn auch so liebten, wie er war.


Vor der Gepäckausgabe gaben seine Beine erneut nach und er brach unter Tränen zusammen. 
Weiche Hände fassten seine Schultern und ein Gesicht tauchte vor seinen Augen auf. 
Er konnte nicht viel erkennen, außer den grünen Augen und dem kantigen Gesicht.
"Geht es ihnen gut? Brauchen sie einen Arzt?"
Nein. Nein verdammt es ging ihm nicht gut. Er wollte schreien, all den Druck, den er aufgebaut hatte einfach loswerden.  
Aber er tat es nicht. 
Er musste seine Probleme nicht auch noch fremden Leuten am Flughafen aufdrängen. 
"Mir geht's gut. Danke. Es tut nur etwas weh, nach dem langen Flug wieder zu laufen."
Es war eine lahme Ausrede. Das wusste er und das wusste anscheinend auch der Mann, der ihm gegenüber saß.
Dennoch ließ er ihn in Ruhe und er stand auf.

Der Junge blieb noch eine Weile sitzen, bis er seinen Koffer sah und sich gezwungen fühlte, aufzustehen. 
Er nahm seinen Koffer, der sich anfühlte, als würde er hundert Kilo wiegen, vom Gepäckband und machte sich auf den Weg zum Ausgang. 

Er hörte seine Familie schon von weitem. 
Seine kleine Schwester hüpfte aufgeregt hin und her, als sie ihn sah. 
Er lächelte und schluckte seine Schmerzen hinunter, in der Hoffnung, dass sie aus lauter Euphorie nicht bemerkten, wie sehr er mit sich rang. 
Die freudigen Umarmungen, als er endlich bei ihnen war und die Fragen, wie der Flug war und wie es ihm ging, realisierte er kaum. 
Es fühlte sich an, wie ein Alptraum, aus dem er nicht erwachen konnte. 

Auf dem weg zu ihrem Auto bekam er Kopfschmerzen vom Lärm des Flughafens. 
Ihm wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter, weil der Alptraum von Sekunde zu Sekunde in der er bei ihnen war immer schlimmer wurde und die Monster, die ihn von innen heraus seit Monaten quälten endlich raus wollten.

Ohne, dass er wusste, wie er dort hin gekommen war, befand er sich plötzlich im Auto seines Vaters, das sonst so vertraut war, aber jetzt eng und fremd wirkte wie ein Gefängnis. 

Die Landschaft zog an ihm vorbei und als er bemerkte, dass es im Auto still war, atmete er tief ein und beschloss, dass jetzt der passende Moment war. 
Plötzlich sah er alles klar. In seinem Kopf gab es nur einen Gedanken und er wusste, dass er es jetzt nicht mehr länger aufhalten konnte. 

"Ich bin schwul."

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