Es war dunkel. Er war sich nicht sicher, aber er ging davon aus, dass nacht war.
Der Grund zu seiner Annahme war der, dass er glaubte, ein paar Stunden zuvor war es heller gewesen. Vielleicht waren es auch keine Stunden, sondern Tage, Wochen, oder auch nur Minuten.
Mittlerweile hatte er jegliches Zeitgefühl verloren.
Einmal hatte er versucht, Sekunden zu zählen, damit er wüsste, wie lang er so da saß, in diesem kalten Raum. Aber nachdem er sich sieben mal verzählt hatte und neu hatte anfangen müssen zu zählen, hatte er aufgegeben.
Aber er vermutete, dass er seit mindestens einem Monat hier war, vielleicht war es auch schon ein Jahr oder mehr.
Sein Kopf schmerzte. Er durfte nicht so viel über die zeit nachdenken.
Er wusste schließlich nicht einmal, ob es Zeit überhaupt gab, oder ob sie ein Hirngespinst aus seinem früheren Leben war.
Außerdem konnte er sich daran erinnern, einmal gelernt zu haben, dass etwas nur existent war, wenn man es fühlen, hören oder sehen konnte.
Fühlen konnte er die Zeit in diesem dunklen Kellerraum nicht. Sie verstrich einfach, ohne, dass er wusste, wie schnell und wohin. Hören und sehen konnte er die Zeit nur auf einer Uhr. Und so etwas gab es hier nicht.
Er hatte keine Uhr mehr gesehen, seitdem sie ihn hier reingebracht hatten. Aber er konnte sich noch vage an das Ticken einer Uhr erinnern.
Tick, Tack, Tick, Tack, Tick… immer im Takt des Lebens.
Die Erinnerung an diese Melodie erfüllte ihn mit Wärme. Er wollte tanzen. Ohne, dass er wusste, was er tat, stand er auf, spürte den kalten Stein unter seinen Füßen.
Tick, Tack, Tick, Tack. Er tanzte zur Melodie einer Uhr, die er weit aus seiner Erinnerung gezogen hatte.
Seine Beine bewegten sich wie von selbst im Tackt in eine Trance der Euphorie.
Das Gefühl zu tanzen erfüllte ihn mit immer noch mehr mit Wärme. Er vergaß den dunklen Kellerraum und den kalten Stein. Er schloss die Augen und befand sich nichtmehr in seinem Kerker, sondern in einem warmen Zimmer. Überall an den Wänden hingen Uhren, sie standen auf dem Boden und aufeinander. Egal wo er hinsah, überall waren Uhren, große und kleine, die im selben Tackt schlugen.
Tick, Tack, Tick, Tack, Tick, Tack… in den verschiedensten Tönen erschufen sie eine reine Melodie, die er so schön nie zuvor gehört hatte.
Tick, Tack, Tick, Tack, Tick…
Ein unmelodisches Schlagen von Stahl auf Stein holte ihn aus seiner Trance. Er spürte den kalten Stein unter seinen nackten Füßen jetzt stärker und stechender.
„Fünf-zwei-drei-sechs, Ruhe da drinnen!“, schrie eine starke Stimme von außerhalb der Zelle. Fünf-zwei-drei-sechs, das war sein Name. Er glaubte nicht, dass das sein echter Name war, aber den hatten sie ihm gegeben, also musste er es sein.
Ihm kam eine Idee.
„Verzeihen sie, mein Herr? Können sie mir sagen, wie viel Uhr es ist? Und welches Datum wir haben?“. Seine Stimme war so rau, dass er sich selbst davor erschrak. Vielleicht sollte er mehr trinken, um seine Stimmbänder zu holen.
Die Stimme außerhalb des Raumes lachte. Es war ein tiefes, böses Lachen, dass ihm einen Schauer über den Rücken laufen ließ.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir das beantworte, alter Mann! Zeit ist wertvoll und in deinen Händen sicher nicht gut aufgehoben.“
Die Antwort enttäuschte ihn nicht. Er bekam sie jedes Mal, wenn er danach fragte.
Einmal hatte er auch gefragt, warum die Zeit so wertvoll war und warum er sie nicht haben durfte, aber dann war ein großer Wächter mit Stock in seine Zelle gestürmt und hatte ihn verprügelt. Seitdem traute er sich das nichtmehr.
Dennoch stellte er sich selbst die Frage immer wieder. Still, in seinen Gedanken, so dass niemand es hörte. Seine Gedanken gehörten ihm. Er durfte mit sich selbst reden, über was er wollte, wenn er es still tat.
Warum durfte er kein Wissen über die Zeit haben? Warum war er hier eingesperrt? Vielleicht war er ja ein geisteskranker Massenmörder, der Kinder getötet und deshalb in Einzelhaft gesperrt worden war. Oder er war ein verrückter Wissenschaftler, der mit Zeit experimentieren konnte und Dinge erfunden hatte, die der Menschheit schaden würden.
Beide Vorstellungen behagten ihm nicht. Er war lieber ein alter, armer Mann, der Tag ein, Tag aus in einem Sessel saß und vor sich hinlebte, statt einem Wissenschaftler. Und er liebte Kinder, also warum sollte er ihnen etwas zu leide tun?
Ach ja, Kinder, dachte er. Kinder hatten so viel Zeit. Er hatte auch einmal viel Zeit gehabt, aber das war lange her. Da war er noch nicht in dieser Zelle gewesen und er war auch noch nicht alt gewesen. Damals war er über Wiesen gelaufen, hatte sich ins Gras gelegt und hatte gesagt „Ich habe alle Zeit der Welt“
Er wusste, dass das nicht stimmte. Wenn er alle Zeit der Welt hatte, welche Zeit hatten dann alle anderen? Hatten die anderen überhaupt Zeit?
Manchmal stellte er sich vor, wie er Zeit nahm und sie an andere verteilte. Er hatte das Gefühl, dass er das schon einmal getan hatte.
Aber dann war er hierher gekommen und alles hatte sich geändert.
Und für ihn gab es keine Zeit mehr.
Vielleicht war ja ein Dieb gekommen und hatte alle Zeit gestohlen. Und deswegen war er jetzt hier. Und er glaubte nur, dass er als einziger so allein war, aber jeder Mensch war in so einer Zelle.
Weil sie keine Zeit mehr hatten und jetzt in einer Matrix aus ewig und nie gefangen waren.
Da fiel ihm der Wächter auf der anderen Seite ein.
„Entschuldigug?“, fragte er schüchtern. „Haben sie Zeit?“
Der Mann lachte wieder.
„Ja. Ich habe viel Zeit.“
„Und wo bewahren sie ihre Zeit auf?“
„Wie dumm du doch geworden bist.“ Der auf der anderen Seite der Wand klang wütend. „Niemand weiß, wo Leute ihre Zeit aufbewahren. Das wissen nur sie selbst. Wenn es jemand wüsste, würde sie viel zu schnell gestohlen.“
Er wurde neugierig.
„Können sie mir noch mehr über die Zeit erzählen?“, fragte er bittend.
„Können kann ich. Ob ich will ist die Frage“, antwortete der Wächter.
„Wollen sie mir mehr über die Zeit erzählen?“
„Nein. Und jetzt Basta.“, kam die strenge und harte Antwort.
Er setzte sich wieder auf das harte Holzbett in seiner Zelle.
Nach und Nach umgab ihn vollkommene Dunkelheit und weiter über die Zeit nachdenkend schlief er schließlich ein.
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